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In jeder Verhandlungs- und Mediationsausbildung kommt sie vor, aber darüber, woher sie kommt, gehen die Meinungen auseinander. Die Geschichte vom Streit um die Orange – manche sprechen auch von der Harvard-Orange oder dem Orangenbeispiel – verdeutlicht eindrücklich den Unterschied zwischen Positionen und Interessen. Indes: Vermutlich kommt die berühmte Frucht weder aus Harvard noch ist sicher, dass es ursprünglich überhaupt um eine Orange ging.

Streit um die Orange: Der Unterschied zwischen Positionen und Interessen

Der Streit um die Orange ist schnell erzählt: Zwei Schwestern zanken sich um eine Orange. Die Mutter schneidet sie und gibt jeder Tochter eine Hälfte. Eine der Schwestern hat es auf den Saft abgesehen und entsorgt die Schale, die andere bäckt mit der Schale einen Kuchen und wirft das Fruchtfleisch weg. Die Mär von der Geschicht: Die Schwestern haben Positionen bzw. Ansprüche („Ich will die Orange haben“) formuliert, die nicht miteinander vereinbar waren. Hätten sie ihre Interessen ergründet („Ich möchte Orangensaft trinken“ und „Ich würde gerne einen Kuchen backen“), hätte eine win-win-Lösung auf der Hand gelegen. In der Praxis ist Wertschöpfung zuweilen komplizierter und nur eingeschränkt möglich. Dennoch zeigt das Orangenbeispiel sehr anschaulich, wie interessenorientiertes Verhandeln beiden Verhandlungspartnern nützen kann.

Uglis statt Orangen?

Häufig wird der Streit um die Orange mit dem Verhandlungsklassiker Getting to Yes (deutsch: Das Harvard-Konzept) in Verbindung gebracht. Tatsächlich waren es aber nicht dessen Autoren Fisher, Ury und Patton, die das Orangenbeispiel konzipierten. Vielmehr war der Streit um die Orange schon damals sprichwörtlich – auch wenn niemand so recht wusste, wer die Geschichte ursprünglich erfunden hat. Ein Beitrag von Deborah M. Kolb im Negotiation Journal (Vol. 11/4, Oktober 1995, S. 339 ff.) ging der Sache vor 20 Jahren einmal auf den Grund und identifizierte einen gewissen Robert J. House als Erfinder des Beispiels. In einem 1975 erschienenen US-amerikanischen Managementratgeber (Hall et al., Experiences in Management and Organizational Behavior, St. Clair Press, Chicago 1975) wird dessen sog. Ugli Orange Exercise beschrieben. Eine Übung mit einer hässlichen Orange? Nicht ganz. Eine Ugli orange – bzw. zu deutsch einfach Ugli – ist eine jamaikanische Kreuzung aus Orange, Tangerine und Grapefruit bzw. Pampelmuse. Die Bezeichnung Ugli ist inzwischen ein verselbständigter Markenname (Deonym), der sich vermutlich tatsächlich vom englischen ugly ableitet, denn die Farbe einer Ugli ist nicht orange, sondern grünlich-gelb.

Die Ugli orange exercise

Die von House entworfene Ugli-Übung zielt im Kern auf eine ähnliche Erkenntnis wie das klassische Orangenbeispiel. Der Spielleiter kündigt die Versteigerung von 3.000 Uglis an den Meistbietenden von zwei Interessenten an. Was die beiden aber nicht voneinander wissen: Einer von ihnen braucht die Rinde der Uglis, um damit ein Bindemittel für Nervengas herzustellen, das ansonsten in Kürze aus einem maroden Militärlager austreten und bei der Bevölkerung erhebliche gesundheitliche Schäden hervorrufen wird. Der andere Interessent braucht den Uglisaft für die Herstellung einer Arznei gegen eine neu ausgebrochene Schwangerschaftskrankheit, die ansonsten in absehbarer Zeit tausende Embryos schädigen wird. Wie beim Streit um die Orange gilt auch bei der Ugli-Übung: Die intuitiv naheliegende Formulierung von Positionen verstellt den Blick auf die Interessen. Viele Spieler erreichen trotz langwieriger und engagiert geführter Verhandlungen nicht die scheinbar selbstverständliche win-win-Lösung. Umso größer ist der Aha-Effekt bei der Auflösung des Spiels.

Ursprung des Orangenbeispiels: Nach wie vor ungeklärt!

So plausibel die Geschichte von der Ugli-Übung als Vorläuferin des Orangenbeispiels klingt, so bleibt doch Skepsis, dass das laut Getting to Yes bereits 1981 „sprichwörtliche“ Orangenbeispiel erst sechs Jahre zuvor erfunden worden sein soll. Eine Anfrage bei William Ury und Bruce Patton, den Autoren von Getting to Yes, klärt auf: Das Orangenbeispiel muss tatsächlich älter sein. Wie viele andere Verhandlungsforscher vermuten auch Ury und Patton den Ursprung der Geschichte bereits im frühen 20. Jahrhundert bei der bekannten US-amerikanischen Managementtrainerin Mary Parker Follett. Bisweilen werden sogar konkret ihre Werke „Constructive Conflict“ und „Creative Experience“ genannt. Ein Blick in beide Büchern zeigt allerdings: Hier ist von einer Orange keine Rede. Die Herkunft des Orangenbeispiels bleibt also weiter unklar. Wer kann Licht ins Dunkel bringen? Wer das Rätsel als erster durch einen konkreten Literaturnachweis auflösen kann, erhält von der Münchener Ausbildung zum Wirtschaftsmediator ein Jahresabonnement der Zeitschrift für Konfliktmanagement (ZKM).